„Candy Haus“ von Jennifer Egan: Wenn das Erlebte zur Ware wird (2024)

Stellen Sie sich vor, Sie könnten ihre Erinnerungen digitalisieren und mithilfe einer App Lieblingsmomente, aber auch Vergessenes und Verdrängtes wiedererleben. Und wer diese intimen Daten in ein kollektives Bewusstsein einspeist, bekäme Zugang zu den Erinnerungen aller anderen, die das tun. In Jennifer Egans neuem Roman „Candy Haus“ ist genau das möglich, mithilfe eines „Mandala-Cubes“ und entsprechender Software. „Es ist einerseits gruselig, andererseits interessant und toll“, sagte Egan bei ihrer Lesung auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin. Eine riskante Versuchung wie das titelgebende zuckersüße Candy House (Lebkuchenhaus), in dem eine Hexe mit Appetit auf Menschenfleisch sitzt. Nur geht es eben um unsere Daten, Gedanken, Gefühle.

Der Mandala-Cube-Erfinder Bix Bouton hat, so sagt er im Roman, mit seiner Geschäftsidee nur Gutes im Sinn, etwa Alzheimer-Kranken helfen, Verbrecher fangen und Vermisste finden. Wir kennen Bix schon aus Jennifer Egans pulitzerpreisgekrönten Roman „Der größere Teil der Welt“ (2010), wo er als Nebenfigur in einer New Yorker WG am Rechner sitzt. Außer ihm treffen wir in „Candy Haus“ viele der im älteren Roman beschriebenen Studentinnen, Musiker, Produzenten, PR-Leute, Ehefrauen, Kinder und Groupies wieder. Statt um den Glanz, Narzissmus und die Drogendelirien einer ganz und gar analogen Pop-Welt geht es nun allerdings um die komplette Digitalisierung des privaten und öffentlichen Lebens.

Von den 60er-Jahren bis etwa 2035

Auch in „Candy Haus“ spinnt Egan ein Netz aus Episoden, die sich untereinander und mit dem Vorgängerroman verbinden. Die erzählte Zeit reicht von den 60er-Jahren bis etwa 2035 und springt in diesen Jahrzehnten hin und her. Neben Bix und seiner Umgebung geht es um eine Widerstandsbewegung gegen Mandala, um Plattenproduzentinnen, die gegen Streamingdienste kämpfen, um Data Miner, Programmierer, Wissenschaftlerinnen und Studierende, Kreative und Hacker, ihre Bekannten, Freunde, Familien.

„Die Alleinseglerin“: Vor 40 Jahren in der DDR erschienen, ist wieder unterwegs

DDR

19.09.2022

„Ein Mann sein“: Nicole Krauss guckt hinter den Schatten von MeToo

New York Times

21.05.2022

Emine Sevgi Özdamar erhält hochverdient denGeorg-Büchner-Preis

Berlin

09.08.2022

Daraus werden so viele Geschichten, Figuren, Verbindungen, dass man sich wünscht, das Buch hätte eine Suchfunktion (oder zumindest eine altmodische Personenliste), um zwischendurch zu klären, ob etwa der Nachwuchsschriftsteller Gregory wirklich der Säugling von den ersten Seiten ist oder wessen Kind diese Studentin oder jener Junge auf dem Baseballfeld noch einmal war, ob diese mit einem Mandala Cube verlinkte Drogensüchtige woanders schon einmal auftauchte. Und zu wem gehört nochmal dieser junge Rothaarige, der in aller Öffentlichkeit hemmungslos kreischt, um seinen Mitmenschen authentische Reaktionen zu entlocken?

Meistgelesene Artikel

New York Times entdeckt Ostdeutschland – und amüsiert sich über Karls Erdbeerhof

Berlin

gestern

Yasmine M’Barek über Berlin: „Es tut mir leid, aber ich verstehe Friedrichshain nicht“

Berlin

gestern

Will die „Tagesschau“ uns wirklich erzählen, dass die Opfer des Messerangriffs mitschuldig sind?

Kultur

gestern

Sein Schrei nach Authentizität, nach dem, was nicht nachgemacht, gestohlen, manipuliert, kopiert, gefiltert ist, stellt sich ja nicht erst in Zeiten der verkauften Erinnerungen. Die medial ausgebeutete Unmittelbarkeit ist neben der Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens, die Egan mit einem Kapitel voller mathematischer Formeln unterstreicht, ein wiederkehrendes Motiv des Romans. Die größte Zuspitzung erfahren solche Fragen nach der Enteignung menschlichen Erlebens in einer Episode über eine „Bürgeragentin“, die sich mit implantierter Steuerungssoftware im Kopf fürs Gemeinwohl in Lebensgefahr begibt. Diese düstere, in 140-Zeichen-Häppchen eindringlich erzählte Geschichte veröffentlichte Egan bereits als Twitter-Short-Story „Black Box“ (2012).

In „Candy Haus“ mündet dieser Exkurs ins Thrillerformat in einem Handlungsstrang, in dem ein paar weißhaarige Punkrock-Recken mit einem (aber nur fast!) abgehalfterten Hollywoodstar in einem Speed-Boot sitzen, was dann wieder ziemlich lustig ist. Auf solche verspielten, ja anarchischen Verknüpfungen muss eine erstmal kommen. „Humor lässt sich nicht quantifizieren“, sagt denn auch Lincoln, jene Figur dieses Romans, die ansonsten jede Interaktion in mathematische Formeln übersetzt.

Egan präsentiert in ihrem Roman keine Antwort auf die dystopischen Potenziale unserer Zeit, sondern eine Fülle kluger, menschenfreundlicher Geschichten, die weder in digitale Fortschrittsversprechen passen noch in den Pessimismus einer von sich selbst enttäuschten Moderne. „Das Wort dystopisch gefällt mir nicht“, sagte sie denn auch in Berlin. Sie habe den Roman während Trumps Regierungszeit geschrieben und es „hat sich zu leicht angefühlt, eine Welt ohne Hoffnung zu schaffen“. Sie interessiere sich mehr für die Resilienz und den Erfindungsreichtum der Menschen, für Überraschungen, neue Ideen und Potenziale.

Anziehende Figuren

Und tatsächlich, viele ihrer Figuren zeichnen sich durch Energie, Beharrlichkeit und Neugier aus, und genau das macht sie anziehend: Über den Internetmillionär Bix hätte man gern noch mehr gelesen, um herauszufinden, wie er sich als Schwarzer in der weißen Welt der Start-ups etablierte. Man möchte wissen, wie genau aus der kleptomanischen PR-Assistentin Sasha eine politische Künstlerin wurde, ob die als Spionin traumatisierte Lulu wieder glücklich wird, wie genau die Anthropologin Miranda Kline ihre bahnbrechenden Berechnungen über menschliches Vertrauen anstellte, ob Lincoln seine zwanghaft zählende Kollegin M. küssen wird und so weiter.

In all dem vernetzten Gewirbel der Episoden zeigt Egan selbst eine enorme Erzählenergie. Ihre Figuren schillern und fesseln, auch in der knappsten Episode gibt es Spannung, Probleme, Bewegung und öfter auch eine Pointe, die aber nie alles abschließt. Bix, seine Fans, Kolleginnen, Gegner, Kinder, Bekannte und alle drumherum leben in unseren Köpfen weiter.

Das ist der Effekt eines jeden Romans, der sich ganz ohne App mit den Gedanken und Gefühlen seiner Leserinnen und Leser vernetzt und in dem ungreifbaren Dazwischen neue Fäden spinnt. Man kann diese Vorstellung eine bescheidene, altmodische Antwort auf die großen und neuen digitalen Fragen nennen. Aber sie weist ja auch auf eine simple, sehr alte Praxis: Jennifer Egan schreibt, so erzählte sie in Berlin, die ersten Versionen ihrer Bücher stets mit der Hand. Mit diesem spontanen, handfesten Tun bekomme sie Zugriff auf ihr Unbewusstes, das „bessere Ideen hat als ich“. Ja, und noch immer können wir ganz analog lesen. Die Frage, wie ein Mandala-Cube mit Schreiben, Lesen oder den Erinnerungen daran umginge, ist damit aber nicht aus der Welt.

Jennifer Egan: Candy Haus. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens. S. Fischer, Frankfurt/M. 2022. 415 Seiten, 26 Euro

„Candy Haus“ von Jennifer Egan: Wenn das Erlebte zur Ware wird (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Carlyn Walter

Last Updated:

Views: 5619

Rating: 5 / 5 (70 voted)

Reviews: 85% of readers found this page helpful

Author information

Name: Carlyn Walter

Birthday: 1996-01-03

Address: Suite 452 40815 Denyse Extensions, Sengermouth, OR 42374

Phone: +8501809515404

Job: Manufacturing Technician

Hobby: Table tennis, Archery, Vacation, Metal detecting, Yo-yoing, Crocheting, Creative writing

Introduction: My name is Carlyn Walter, I am a lively, glamorous, healthy, clean, powerful, calm, combative person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.